Überleben in der Vorklinik - Vorklinik - Via medici (2024)

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  • Silja Schwencke
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  • 14.09.2005

Vom ersten Semester bis zum Physikum hat das Medizinstudium einen eigenen Namen: Vorklinik. Sie ist der Anfang einer Medizinerkarriere und Bewährungsprobe zugleich, denn der Leistungsdruck ist hoch. Auch die neue AO hat daran nichts geändert. Wir geben Tipps, wie Studenten diesen Berg namens Vorklinik bewältigen.

Startschuss zum Prüfungsmarathon

Überleben in der Vorklinik - Vorklinik - Via medici (1)

Die ersten Schritte als Medizinstudent sind für viele die schwersten. Der Prüfungsstress der ersten Semester ist enorm. Zusätzlich befinden sich die frisch gebackenen Vorkliniker oft in einer verwirrenden Situation:
Im Uni-Alltag fühlen sie sich häufig als reine Naturwissenschaftler und quälen sich mit chemischen Formeln, Zellorganellen oder elektrischen Schaltkreisen herum. Für die Welt außerhalb der Fakultät sind sie dagegen fast schon stolze Ärzte.

Spätestens im zweiten Studienjahr fragt Oma mit Vorliebe bei ihren Verdauungsproblemen um Rat. Nach bestandener Terminologie-Klausur kann man ihr da immerhin erklären, dass ein „harter Kotballen“ auf lateinisch „Skybalum“ heißt. Innerlich fürchtet man, dass es noch lange Zeit dauern wird, bis man der Armen wirklich helfen kann. Drohend wie ein riesiger Berg liegen unzählige Testate vor einem, und am Ende wartet zudem das Physikum oder die erste Ärztliche Prüfung. Wird man es überhaupt schaffen, bis in die „Klinik“, zu den Patienten und den Krankheiten zu kommen?

Welche Klausur die größte Hürde ist und welcher Prüfer der unangenehmste, unterscheidet sich von Uni zu Uni. Trotzdem haben viele Vorkliniker ähnliche Sorgen. Und eines ist sicher: Mit der Immatrikulation für das Fach Humanmedizin betritt man eine neue Welt, und vieles im Leben ändert sich.

Am Anfang noch grün hinter den Ohren

Wegen des harten Numerus clausus tummeln sich an den medizinischen Fakultäten eine Menge guter Schüler. Sie sind es gewohnt, dass ihnen alles locker und leicht von der Hand geht. Die riesige Stoffmenge und der Testat-Marathon erwischt aber viele von ihnen am Anfang eiskalt.
„Nach einem Abitur mit 1,0 hatte ich das Gefühl, ich kann die Welt erobern“, meint Bettina Wächter, die im 4. Semester in Freiburg studiert. „Die Ernüchterung kam aber schnell. Ich fand den Stundenplan furchtbar, und allein für zwei Chemie-Klausuren habe ich mehr gelernt als für mein ganzes Abitur.“

Elisabeth Jahn, die in Jena im 5. Semester ist, kann ihr nur beipflichten: „Der Übergang war hart. In den ersten vier Wochen hatte ich keinerlei Orientierung und habe völlig planlos drauflosgelernt.“

Christian König, der in Jena im 2. Semester studiert, plagte noch ein anderes Problem: „Ich kam vom Bund und hatte ein Jahr meinen Kopf nicht angestrengt. Den Beginn des ersten Semesters habe ich komplett verschlafen." Wie ihm ergeht es wohl den meisten Vorklinikern: „Mir haben vorher zwar alle gesagt, dass es viel ist“, meint er. „Aber bevor es mich nicht selber betraf, konnte ich mir einfach nicht vorstellen, wie viel.“

Die neue "Familie"

Wie schnell sich Vorkliniker an der Uni eingewöhnen und wie wohl sie sich dort fühlen, hängt oft auch vom „Flair“ der Fakultät ab. Bettina Wächter erzählt aus Freiburg:
„Ein Professor machte uns direkt am Anfang klar: ,Es gibt Lernen, Freizeit und Schlafen. Und auf eines der letzten beiden können sie verzichten.‘“ Rückblickend meint sie: „Bei der Studienortwahl bin ich auch nach dem Ranking im „Stern“ gegangen. Das würde ich heute nicht mehr tun. Das Ranking richtet sich sehr nach dem Urteil der Professoren. Vielleicht würde ich an eine Uni im Osten gehen. Ich habe gehört, dass die Dozenten dort noch näher an den Studenten dran sind.“

Für Jena kann Christian König das bestätigen: „Es wird viel von uns verlangt, aber insgesamt bin ich mit der Lehre zufrieden. Das Studium macht Spaß.“ Er hat schnell Kontakte knüpfen können, weil er alle Kurse mit den 22 Studenten seiner Seminargruppe gemeinsam besucht. „In den ersten Tagen sind wir von Studenten des dritten Semesters an die Hand genommen worden“, erzählt er. „Sie haben mit uns Präp-Bestecke gekauft, uns die Gebäude gezeigt und viel erklärt. Dadurch fühlte ich mich gut aufgehoben. Bestimmt die Hälfte aus dieser Seminargruppe hat Mentor gespielt. Ich weiß nicht, ob das freiwillig war oder ob sie Geld dafür bekommen haben. Jedenfalls werde ich es auch machen.“ An seiner Uni wird die Vorklink geradezu „zelebriert“: Jedes Jahr organisieren die Studenten, die gerade das Physikum bestanden haben, einen „Vorkliniker-Ball“. Sie laden vor allem auch die jüngeren Semester dazu ein.
Elisabeth Jahn hat diesmal das Programm mitgestaltet. „Es wird toll“, freut sie sich. „Wir werden singen, Theater spielen und zum Schluss den ,Vorkliniker des Jahres‘ wählen. Auch die Dozenten machen mit. Mit ihnen haben wir sogar ein Video gedreht, in denen sie vorgestellt und zum Teil ganz schön karikiert werden.“

Strategien zum Überleben

Auch wenn man sich an seiner Fakultät wohl fühlt – dem Prüfungsstress entkommt in der Vorklinik niemand. Oft scheinen die Strapazen bis zum Physikum immer schlimmer zu werden. Viele Studenten entwickeln deshalb Strategien, mit denen sie dem Druck gut Stand halten.
„Jetzt, im zweiten Semester, kann ich schon viel besser mit dem ganzen Stress umgehen“, berichtet Christian König. „Ich versuche, jeden Tag Sport zu treiben – und wenn es nur 30 Liegestützen sind. Vor meinem letzten Arbeitstestat bin ich abends ausgegangen und habe trotzdem bestanden.“ Wenn er noch einmal anfangen müsste, würde er aber ein paar Dinge anders machen:
„Es ist ganz wichtig, schnell in einen Lernrhythmus zu kommen“, meint er. „Weil ich am Anfang alles schleifen gelassen habe, musste ich den Stoff in durchwachten Kaffee-Nächten nachholen. Zuerst konnte ich auch noch nicht unterscheiden, was wichtig und was unwichtig war. Da waren die Mentoren eine große Hilfe.“ Allen Vorklinik-Startern rät er:
„Auf jeden Fall sollte man sich ein Hobby bewahren – sonst bekommt man einen Knall.“

Auch für Elisabeth Jahn war die Zeiteinteilung ein großes Problem:
„Man sollte die Vorlesungen kontinuierlich nacharbeiten“, meint sie rückblickend. „Damit der Berg am Schluss nicht zu groß wird.“

Bettina Wächter empfiehlt, in den Semesterferien richtig Urlaub zu machen: „Ich habe zwischen dem zweiten und dritten Semester quasi ‚Ferien auf Vorrat‘ gemacht“, berichtet sie. „Jedesmal, wenn ich im Winter vom Prüfungsstress fix und fertig war, habe ich mir die Paris-Fotos des Sommers angeschaut – das hat mir Kraft gegeben.“

Gut tut es vielen ehrgeizigen Vorklinikern, wenn sie die Ansprüche an sich selbst nicht zu hoch schrauben. Dann löst ein „versiebtes“ Testat nicht gleich eine Existenzkrise aus. Christian König meint dazu nüchtern:
„Ich habe mich damit abgefunden, dass es jetzt nur ums Durchkommen geht – ich will auch leben.“
Elisabeth Jahn musste in Physiologie in die mündliche Nachprüfung. „So schlimm fand ich das aber nicht“, gibt sie zu. „Mir war schon klar, dass jetzt nichts mehr so ist wie in der Schule.“

Wenn Seele oder Körper versagen

Selbst den besten und motiviertesten Studenten passiert es, dass sie im Lernstress der Vorklinik auf einmal nicht mehr so funktionieren, wie sie sollten. Manchmal versagt die Seele, bei Bettina Wächter war es der Körper. Im dritten Semester erkrankte sie schwer an Pfeiffer’schem Drüsenfieber.
„Es begann ganz harmlos als Erkältung“, erzählt sie. „Aber am Ende musste ich als Notfall stationär in die HNO-Klinik aufgenommen werden. Meine Tonsillen waren so angeschwollen, dass ich nicht mehr schlucken konnte. Außerdem bestand die Gefahr einer Milzruptur. In meinem ganzen Leben bin ich noch nie so krank gewesen.“ Fast hätte sie das Semester wiederholen müssen. Zum Glück setzte sich der Professor für Medizingeschichte, ihr Mentor, bei den anderen Dozenten für sie ein. „Ich habe alle Prüfungen nachgeholt und mich einfach durchgequält“, schildert sie. „Mit Weinkrämpfen zwischendurch.“ Sie hat nicht aufgegeben und das Semester geschafft.

Manchmal sind es auch psychische Probleme, die das Studium zur Qual werden lassen. Dr. Helga Knigge-Illner von der Psychologischen Beratungsstelle der FU Berlin hat keine genauen Zahlen darüber, ob Medizinstudenten der ersten Semester überproportional oft ihre Sprechstunde aufsuchen. „Auf jeden Fall sind sie gut vertreten,“ berichtet sie. „Ein häufiger Grund ist Prüfungsangst. Vor allem in den vielen mündlichen Prüfungen ist das Bestehen ja sehr davon abhängig, wie viel die Studenten sich selber zutrauen und wie sie mit den Fragen umgehen. Durch den hohen Leistungsdruck entstehen bei manchen Hochschülern so viele Ängste und Selbstzweifel, dass sie während der Prüfung einfach versagen. Gegen diese Ängste trainieren wir in Gruppenworkshops immer wieder die Prüfungssituation. Nach meiner Erfahrung profitieren die Medizinstudenten gut von solch einem Training.“

Vorkliniker – hart im Nehmen

Die Statistik gibt Dr. Knigge-Illner Recht – die meisten Medizinstudenten der Vorklinik scheinen ähnlich belastbar zu sein wie Bettina Wächter: Trotz Prüfungsmarathon und Durchfallquoten, die in der Gerüchteküche bisweilen schwindelnde Höhen erreichen, brechen nur ganz wenige das Studium ab. Nach der „Studienabbruchstudie 2005“ des Hochschul-Informations-Systems (HIS) sind es nur 10 Prozent. Die Quote steigt auf 13 Prozent, wenn man die Studenten hinzunimmt, die der Medizin den Rücken kehren, aber in einem anderen Fach einen Abschluss machen. Das ist der absolute Minus-Rekord der Abbruchrate aller Studiengänge, in keinem anderen Fach sind es so wenig.

Bettina Wächter bestätigt: „Ich kenne niemanden, der das Studium wegen nicht bestandener Prüfungen abgebrochen hat. Es lag eher an mangelndem Interesse. Eine Freundin, die das Studium abbrach, erklärte mir: ,Ich kenne keinen Arzt, bei dem ich denke: So wie der möchte ich mal werden.‘“ Elisabeth Jahn hat noch etwas anderes beobachtet: „Ich glaube, am ersten Tag im Präp-Saal sind einige umgefallen und nicht mehr wiedergekommen.“

Die berühmte "Verzahnung"

Trotz dieser Traum-Abbrecherquote gab es in der Vergangenheit harte Kritik am Medizinstudium, auch an den vorklinischen Semestern. Es hieß, sie seien überfrachtet mit Theorie, und die Studenten würden viel zu spät Kontakt zu den Patienten bekommen. Als Antwort trat 2003 die neue Approbationsordnung in Kraft. Nach ihr sollten Klinik und Vorklinik stärker miteinander „verzahnt“ werden. Die strikte Trennung zwischen beidem sollte Vergangenheit sein.

Hat sich jetzt etwas geändert? „Kaum“, meint Elisabeth Jahn. „Die Professoren geben sich Mühe, aber klinische Themen werden höchstens angerissen. Für den Bezug zur Klinik hilft mir vor allem mein Studenten-Job auf der Intensivstation.“

Christian König kann dagegen Verbesserungen erkennen:
„Viele neue Kurse, in denen es explizit um klinische Themen geht, haben wir zwar nicht“, sagt er. „Aber die Dozenten bringen in ihren Unterricht klinische Bezüge mit ein, wann immer es geht. Zum Beispiel haben wir in Anatomie an der Leiche eine Pleurapunktion gezeigt bekommen.“

Bettina Wächter kann zumindest von einigen guten Kursen berichten: „Wir hatten zum Beispiel Fallvorstellungen auf verschiedenen Stationen. Außerdem gab es eine Anamnesegruppe. Oft waren die Kurse mit klinischen Bezügen aber unwichtige ,Nebenseminare‘. Häufig kamen sie erst durch die Eigeninitiative der Studenten zustande. Ich habe das Gefühl, das Thema ,Klinikbezug’ ist noch ein wenig ,Stiefkind‘.“

Alternative: Modellstudiengang

Nadine Tix studiert im 4. Semester in Aachen und erlebt gerade die Extremform der „Verzahnung“ zwischen Klinik und Vorklinik. In ihrem Modellstudiengang gibt es keine „Vorklinik“ im eigentlichen Sinne mehr. Bisher hat das ihren Spaß am Studium nicht geschmälert. „Gleich die ersten drei ,Einführungswochen Notfallmedizin‘ waren genial“, schwärmt sie. „Wir haben gelernt, wie man reanimiert und intubiert.“ Einige rein naturwissenschaftliche Kurse, wie das Praktikum der Physik und der Chemie, blieben allerdings auch ihr nicht erspart. Aber seit dem dritten Semester wird sie nur noch in so genannten „Systemblöcken“ unterrichtet. Unter einem Oberthema sind dabei Kurse aus verschiedenen Fachbereichen zusammengefasst. Ein Block dauert etwa acht Wochen und findet in Kleingruppen von 18 Studenten statt. Den Anfang machte das Thema „Bewegungsapparat“. Hier lernte Nadine viel von dem, was traditionell der Präp-Kurs ist, zusätzlich aber noch die Anatomie am Lebenden, Orthopädie, Unfallchirurgie, Pathologie und Neuropathologie.

Der zweite Block „Herz-Kreislauf“ hat Nadine bisher am meisten Spaß gemacht. „Zwischen Innere und Pathologie konnte ich dabei schöne Bezüge herstellen“, erzählt sie. „Als wir im Untersuchungskurs dann noch einen Patienten mit einer künstlichen Herzklappe auskultierten, war das ein richtiges ,Aha-Erlebnis‘.“ Vollgepackte Stundenpläne und Prüfungsstress kennt sie aber natürlich auch. Nach dem 6. Semester steht für sie die „1. Ärztliche Basisprüfung“ an, mit mündlichem, praktischem und schriftlichem Teil. Und das „Hammerexamen“ wird am Ende auch sie bestehen müssen.

Eine Zukunft ohne Vorklinik?

Vermisst Nadine nicht manchmal naturwissenschaftliche Grundlagen? Hat sie nicht das Gefühl, dass ihr etwas fehlt? „Nö“, lautet ihre Antwort. „Bisher nicht.“ In den traditionellen Studiengängen spüren die Kommilitonen dagegen bisweilen zu viel Ballast:
„Ab und zu frage ich mich schon: ,Wofür brauche ich das?‘“, meint Christian König. „Meistens sehe ich zwar ein, dass ich eben jetzt die Grundlagen pauken muss. Aber eigentlich ist die Klinik doch das, wo ich wirklich hinwill.

Vielleicht wird die Trennung zwischen Vorklinik und Klinik ja tatsächlich eines Tages „historisch“ sein. Die Medizinische Fakultät in Jena wäre dann um ein großes Fest ärmer. Für Elisabeth und Christian gilt auf jeden Fall: Sollten sie auf dem „Vorkliniker-Ball“ zum „Vorkliniker des Jahres“ gewählt werden, können sie davon noch ihren Enkeln erzählen.

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